Buchcover: © by Joachim Beyer Verlag

Warum sollten heute noch Eröffnungsbücher zur Königsindischen Verteidigung geschrieben werden? Es gibt sie zuhauf. Mehr oder weniger gelungen fächern sie diesen schwer zu ergründenden Komplex systematisch auf und machen ihre Spielweise in Varianten zugänglich. Man darf nicht vergessen: Das Königsindische ist die Königsdisziplin unter den indischen Systemen. Allerdings fehlt es, ist die Eröffnungsphase erst einmal abgeschlossen, an Fachliteratur zu ihrer Mittelspielstrategie. Was hilft es, wenn sich Rätsel an Rätsel reihen, sobald der Schwarzspieler im späteren Verlauf strategische Ziele bestimmen will.

Wer indisch spielt, muss einen langen Atem haben. Frühe Gefechte sind die Seltenheit, umso mehr heißt es daher, sich der Feinheiten der verästelten Varianten bedienen zu können. Man verliert bei ungenauen Zügen nicht sofort, aber gerät nachhaltig in Schwierigkeiten.

Karsten Müller hat schon vor einiger Zeit einen Verbesserungsansatz zu dieser didaktischen Lücke gefunden und diesen für die italienische und französische Eröffnung sowie das Damengambit installiert, um sie griffig zu machen. Das vorliegende Lehr- und Übungsbuch zur königsindischen Mittelspielstrategie widmet sich nur Stellungen, die explizit aus diesem System hervorgehen und exemplarisch seine Wesenszüge und Pläne herausarbeiten.

Müller verwendet zur Bestimmung der königsindischen Strategien ausschließlich Übungsaufgaben aus modernen Turnierpartien. Eben weil die strategischen Inhalte und Kompetenzen nicht wie ein Alphabet zu erlernen sind und keinen Universalschlüssel kennen, ergibt sich die Quintessenz erst aus der Zusammenfassung.

Daher verlangt das von Müller empfohlene didaktische Vorgehen Fingerspitzengefühl beim Autor und Neugier und Bereitschaft fürs Nachfassen beim Leser. Und in diesem Sinne leistet Müller seinen Teil, indem er im Kapitel 'Aufgaben' den Leser mit typischen Bauernstrukturen, Positionen und Fragestellungen konfrontiert und auf diese Weise gewissermaßen ein Gefühl von Vertrautheit erweckt. Wie diese kritischen Stellungen entstehen, weiß der Leser bis dahin nicht. So wird er ermutigt, eine Einschätzung abzugeben, nachdem er sich in die Problematik vertieft hat.

Diese Schrittfolge existiert in ihrer konkreten Ausgestaltung im allgemeinen Lehrbetrieb nicht. Müller kitzelt sozusagen einen ersten Eindruck beim Leser hervor. Möglicherweise wird je nach Schweregrad eine Lösung gefunden oder zumindest ein Weg dahin beschritten. Es ist jedoch eher anzunehmen, dass der Leser sich irrt, ganz oder in einzelnen Etappen. Diese Erfahrung greift Müller im Lösungsteil auf und präsentiert die ganze Partie bis zum kritischen Moment.

Von da an nimmt er den Leser bei der Hand und führt ihn ins königsindische Denken ein. Dieses doppelköpfige Konzept motiviert den Leser zum Lernen und verhindert geschickt, dass er wie bei üblichen Lehrbüchern einfach nur konsumiert und den kurzfristigen Einblick rasch im Verdauungstrakt wieder vergißt.

Die kommentierten Partien lesen sich angenehm, sind griffig und gefällig beim Aufzeigen der Pointen und hinterlassen so verfolgbare Spuren im Gedächtnis. Typisch für das Königsindische ist, dass bei relativ fester Bauernstruktur vor allem Figurenmanöver auf engen Räumen zum Tragen kommen, die die Balance zwischen Risiko und Bedacht aufrechterhalten, bis sich die Spannung in Kombinationen entlädt.

Dies macht auch den Reiz dieses Verteidigungssystems aus, man braucht lange bis zu den ersten Kampfhandlungen, dann jedoch regnet es Feuer vom Himmel. Den Leser in diese abenteuerreichen Kämpfe einzuführen, macht den Wert dieses wertvollen Buches aus. Und ganz nebenbei kehrt Müller mit seiner Lehridee zu den Anfängen der Theoriebildung zurück. Aus Meisterpartien entstanden die frühen Buchvarianten, die Analyse hatte sie lediglich vertieft und sytematisiert. Müllers Verdienst ist es, den genuinen Kerngedanken der Theorie wieder ans Tageslicht geholt und zu einem Lehrsystem verdichtet zu haben.

24. Januar 2025