"Man verinnerlicht, dass man als Sportlerin den Mund zu halten
und zu funktionieren hat. Wenn man sich später in der Pubertät dann
doch mal auflehnt, wird man abgestempelt: Störenfried, Querkopf,
Sensibelchen, ungeeignet für den Leistungssport. Dann droht
Straftraining und mehr. Es ist ein System der Angst." [1]
(Kim Bui, ehemalige deutsche Spitzenturnerin)
Die systematische Misshandlung von Kinder- und Jugendkörpern im Hochleistungssport findet nicht nur in den USA, China, Japan oder Australien statt, den Top-Four-Nationen im Medaillenranking bei den letzten Sommerspielen in Paris. Auch in "Sportdeutschland", dessen Funktionseliten im Chor mit den Medien eine mangelnde Medaillenausbeute beklagen und händeringend nach jungem, noch unverbrauchtem Talentematerial suchen, damit "wir wieder an der Spitze stehen" (Kanzler Merz), ist die nicht selten qualvolle Zurichtung des Athletenkörpers staatlich gefördertes Programm. Natürlich nicht in Form direkter Gewaltaufforderung, sondern mittelbar und verschleiert über die Förderinstitutionen des Spitzensports, über den sportpolitischen Druck von oben nach unten.
"Medaillen sind und bleiben die einzig wahre Währung", gab der frühere Vorsitzende des Bundestagssportausschusses, Frank Ullrich (SPD), schon in der letzten Legislatur die Marschrichtung für die Nachwuchsförderung vor. Inzwischen ist der Spitzensport umgesiedelt und vom Bundesinnenministerium ins Kanzleramt verschoben worden. Unter der Bezeichnung "Staatsministerin für Sportpolitik und Ehrenamt" wird jetzt die Politikwissenschaftlerin Dr. Christiane Schenderlein (CDU) die Geschicke des Sports anleiten. Unter Friedrich Merz, der ein glühender Befürworter einer deutschen Bewerbung für die Olympischen und Paralympischen Sommerspiele ist, sollen offenbar Nägel mit Köpfen gemacht werden. Kaum im Amt hat auch Schenderlein bereits die Kinder im Blick. "Wer im Sport ganz nach oben will, der fängt klein an", meinte sie bei ihrer Antrittsrede im Parlament. "Wenn wir etwa an die Olympischen Spiele 2040 denken, dann wird uns bewusst, dass unsere Athletinnen und Athleten heute in der Kita oder in der Grundschule sind. Auch hier gilt: Gemeinsam mit den Ländern, Kommunen und Vereinen müssen wir Deutschland als Sportnation international wieder wettbewerbsfähig machen."
Damit "wir" unter die Top-Five im Medaillenspiegel für die angepeilten Spiele 2036, 2040 oder 2044 kommen, "müssen" schon jetzt die Talente ausgesiebt und Zug um Zug ans internationale Spitzenniveau herangeführt werden. Dass hinter den Phrasen von der Wettbewerbsfähigkeit, die Deutschland im Sport zurückgewinnen müsse, sehr viel Blut, Schweiß und Tränen schon bei den Jüngsten stehen, darüber schweigen die Damen und Herren des Hohen Hauses lieber oder nehmen es als gegeben hin. Hauptsache das sich durch Kriegstüchtigkeit, Energieverteuerung und absurde Feindmarkierungen ins eigene Knie schießende Berlin erstrahlt wieder im Medaillenglanz - am liebsten schon 2036, hundert Jahre nach den Nazispielen, als der Welt glauben gemacht werden sollte, es ginge nur um Sport und Spiele, um die Ertüchtigung der Jugend, um die Mobilisierung der Nation. Die Bundesregierung, die zu Lasten von sozial- und arbeitspolitischen Verpflichtungen die unglaubliche Summe von über 40 Prozent (rund 220 Milliarden Euro) des aktuellen Bundeshaushalts in die militärische Aufrüstung stecken will, braucht die Olympischen Spiele offenbar als flankierende Maßnahme zur spaßgesellschaftlichen Ablenkung von Sozialdumping, Militarisierung und Demokratieabbau. Christiane Schenderlein bezeichnete eine deutsche Bewerbung für die Sommerspiele als "Zukunftsaufgabe", "ein gesellschaftlicher Auftrag", was die "Modernisierung unseres Landes" unterstütze. [2]
Zwar behaupten heutige Sportfunktionäre oder -politikerInnen, dass man keinen sportlichen Erfolg um jeden Preis wolle, doch das sind reine Lippenbekenntnisse angesichts eines weltweit immer härter betriebenen Konkurrenzkampfes der Wirtschaftsstandorte, in deren Tretmühlen auch der staatlich geförderte Medaillenkandidat einen Zahn zuzulegen hat. Am Beispiel des Deutschen Turner-Bundes (DTB), der nach weiteren internationalen Sportverbänden nun ebenfalls durch einen heftigen Missbrauchsskandal erschüttert wird, lässt sich trefflich studieren, mit welcher zum Teil erschreckenden Brutalität in diesem Wo-gehobelt-wird-da-fallen-Späne-Gewerbe mit dem Kindsmaterial umgesprungen wird. So haben zahlreiche deutsche Spitzenturnerinnen "systematischen körperlichen und mentalen Missbrauch" angeklagt. Ess- und Gewichtskontrollen, Straftraining, Schmerzmittel, Drohungen, Demütigungen und Schikanen seien an der Tagesordnung gewesen, sogar mit Knochenbrüchen habe man sie noch turnen lassen, kritisieren viele "ein System der Angst" im Frauenturnen, wo die Mädchen bereits mit sechs Jahren Leistungssportlerinnen sind und mit zwölf bei den Junioren "Wettkampfhärte" schnuppern dürfen.
Das halten nur die wenigsten durch. Viele Turnerinnen würden den Sprung in die höheren Altersstufen gar nicht mehr schaffen. "Das liegt nicht daran, weil sie keine Leistung bringen, sondern weil sie einfach so kaputt sind körperlich und psychisch", erklärte Janine Berger in einem bemerkenswerten Interview des Deutschlandfunks [3], das allerdings nur als Audiodatei vorliegt. Seitdem der öffentlich-rechtliche Sender seine Beiträge im Sport nicht mehr verschriftlicht (siehe Streit um "Presseähnlichkeit"), bleiben von der allgemeinen Hofberichterstattung abweichende Berichte noch weitgehender unter dem Radar der Google-Öffentlichkeit. Die ehemalige Spitzenturnerin hatte Ende letzten Jahres, zusammen mit anderen Turnerinnen, öffentlich gemacht, welch zwanghaftem Trainings- und Wettkampfregime sie jahrelang unterworfen war, ohne sich als Kind dagegen wehren zu können. Zudem hat sich Janine Berger zusammen mit anderen in einem offenen Brief [4] gegen die vermeintlich "unabhängige" Untersuchung der Vorwürfe und Missstände im Turnen durch eine Anwaltskanzlei nach Wahl des Turnerbundes gewehrt.
Weil sich so viele Kaderturnerinnen zu Wort gemeldet hatten, konnte der Verband die Misshandlungen nicht mehr als Einzelfälle abtun. Zwar soll es jetzt von mehreren Seiten eine Reihe von Untersuchungen der Trainingsmethoden und missbräuchlichen Vorgänge geben, und in Baden-Württemberg, dessen Turnstützpunkte Stuttgart und Mannheim besonders im Fokus stehen, hat die Staatsanwaltschaft ihre Arbeit aufgenommen, zudem wurde eine Expertengruppe installiert, doch Zweifel sind angebracht, dass am Ende mehr dabei herauskommt als die Neujustierung leistungssporttypischer Akzeptanzstandards für Körperzucht und -qual, auch "humaner Spitzensport" genannt. So wirkt etwa die Verpflichtung von Toptrainerin Aimee Boorman für den besonders in Verruf geratenen Bundesstützpunkt Stuttgart wie ein Pflaster auf die riesige Wunde des Kinderhochleistungsturnens. Die US-Amerikanerin formte die absolute Ausnahmeturnerin Simone Biles zum Superstar und wird als menschenfreundliches Gegenstück gehandelt zur US-amerikanischen Medaillenschmiede um den inzwischen verstorbenen Trainer Béla Károlyi, der zusammen mit seiner Frau Marta das osteuropäische Drillsystem im US-Sport verkörperte und Vorbildgeber für viele der autoritären Turnschulen im In- und Ausland war. Prompt brachte der SWR unter der Überschrift "Die Menschenfreundin: Mit Aimee Boorman soll ein neuer Geist einziehen" [5] einen Beitrag, der die Trainerin wie eine heilige Samariterin des Kunstturnens erscheinen lässt. Nach den Missbrauchsvorwürfen und der Freistellung von zwei Trainern in Stuttgart eine Imagepolitur vom Feinsten!
Man muss vor Kim Bui, deutsche Spitzenturnerin und über zwanzig Jahre lang Teil des Systems, den Hut ziehen, dass sie an exponierter Stelle aussprach, was eigentlich jeder weiß oder wissen könnte, der sich mit der Materie kritisch befasst. Nachdem sie bereits 2023 ein Buch über ihre leidvollen Erfahrungen als Kaderturnerin veröffentlicht hatte, legte sie Anfang des Jahres noch einmal nach: "Ich glaube, Leistungssport kann nie wirklich gesund sein, schließlich verschiebt man permanent die Grenzen dessen, was der eigene Körper zu leisten imstande ist." Lange Zeit habe sie es auch für normal gehalten, dass man mit Schmerzen und Verletzungen bei Wettkämpfen antrete, man immerzu mit dem eigenen Gewicht ringe und sich ständig nach dem Essen übergebe, dass Trainer dieses Verhalten mit ihren Kommentaren noch befeuerten und sich sogar ins Intimleben von Sportlerinnen einmischten, sagte Bui dem "Stern". "Man ist noch so jung, man sieht die Ergebnisse, die Trainingsmethoden scheinen den Trainern rechtzugeben, also hinterfragt man nicht. Man verinnerlicht, dass man als Sportlerin den Mund zu halten und zu funktionieren hat. Wenn man sich später in der Pubertät dann doch mal auflehnt, wird man abgestempelt: Störenfried, Querkopf, Sensibelchen, ungeeignet für den Leistungssport. Dann droht Straftraining und mehr. Es ist ein System der Angst." [6]
Die Mechanismen der emotionalen und sozialen Abhängigkeit sind relativ klar. Kinder sind Wachs in den Händen ihrer Trainerinnen und Trainer, und das wird seit Generationen ausgenutzt - insbesondere im Hochleistungsgewerbe, wo das Spitzenpersonal noch immer ein viel zu gutes Image hat. Bezeichnenderweise gibt es keine offiziellen Stellungnahmen des Berufsverbandes der Trainer/innen im deutschen Sport (BVTDS) zu den Missbrauchsfällen im Turnen, weil der Lobbyverband offenbar nicht an den konstitutiven Bedingungen und programmatischen Widersprüchen des Gewerbes rühren will. Auch unter den arrivierten Trainern gibt es niemanden, der sich mit deutlichen Worten von Kollegen und Kolleginnen distanzieren würde, die mit harter Hand die "Entwicklungspotenziale" der SportlerInnen bearbeiten. Es könnte ja herauskommen, dass es noch viel mehr von diesen "Quälixen" gibt, die da meinen: "Ich habe meinen Job nicht gemacht, um beliebt zu sein." [7] Dass wegen sexuellen Missbrauchs, aber auch zahlreicher anderer Vergehen, allein im US-Turnsport rund 300 Trainerinnen und Trainer ausgeschlossen oder suspendiert worden sein sollen, wie das U.S. Center for Safe Sport berichtete, spricht Bände. [8] Doch selbst in Nationen, die im olympischen Frauenturnen nicht so erfolgreich sind, wird auf brutale Weise mit den Kleinsten umgegangen, wovon ein Offener Brief [9] von mehr als 600 Turnerinnen und Turnern in Kanada zeugt, die erklärten, dass sie von ihren TrainerInnen missbraucht wurden.
Ob Hochleistungssport auch gesund sein kann? Solange sich die Turnerinnen nur mit kleineren Blessuren, Schmerzen und seelischen Kümmernissen herumplagen müssen, scheint doch alles in bester Ordnung. Aber wehe, wenn Leistung und Erfolg nicht stimmen und die Zweifel immer lauter werden, ob man noch die Eignung für den Spitzensport mitbringe. Die 20jährige Lara Hinsberger hatte auf Instagram geschrieben, dass sie am Turn-Stützpunkt Stuttgart wie ein Gegenstand behandelt worden sei: "Ich wurde benutzt und das so lange, bis ich körperlich und geistig so kaputt war, dass ich für die Trainer (und irgendwann auch für mich selbst) sämtlichen Wert verlor." [10]
Nach den vielen Missbrauchsvorwürfen der letzten Jahre hat sich der DTB, eigenen Angaben zufolge, "zur Aufgabe gemacht, die Athlet*innen noch mehr in den Mittelpunkt des Handelns zu stellen. Der gesamte Trainingsprozess mit dem Ziel, international konkurrenzfähig zu sein, soll so gestaltet werden, dass vom Beginn bis zum Ende der Karriere das Kindeswohl und die Persönlichkeitsrechte und -entwicklung der Athlet*innen gewährleistet sind". [11]
Diese wohlfeil formulierte Rechnung, die auch von Medienvertretern nur selten hinterfragt wird, geht schon deshalb nicht auf, weil Leistung, Erfolge und internationale Konkurrenzfähigkeit Voraussetzung für die Förderwürdigkeit von Kadersportlerinnen sind. Wer die Kriterien nicht erfüllt, verliert seinen Nutzwert und wird auf "sozialverträgliche" Art und Weise fallengelassen. Es muss ja nicht immer die knallharte Ausdelegierung durch die Funktionäre, Manager oder Trainer sein - wozu hat man denn die Sportpsychologen und Karriereberater.
Wem das zynisch erscheint, der sollte sich lieber fragen, ob die Funktionäre den Druck auf die Turnerinnen nicht in Wirklichkeit noch erhöht haben. Das wird in der öffentlichen Diskussion, die sich hauptsächlich um missbräuchliche Trainingspraktiken, nicht aber um das Leistungsregime als solches dreht, überhaupt nicht erwogen. Denn wenn die Verhinderungsgründe für Spitzenleistungen weggefallen sind, weil die harschen autoritären Maßnahmen nun angeblich eingedämmt werden, was bleibt den Kaderturnerinnen dann noch an "Ausreden", wenn es trotzdem nicht für die Medaille reicht? Der direkt oder indirekt geäußerte Vorwurf gegenüber den Aktiven ist stets der gleiche: Zu einfache Übung, zu niedriger Schwierigkeitsgrad, zu lasche Einstellung, zu wenig harte Arbeit - das Bezichtigungsgefüge des Leistungssports lässt niemanden vom Haken. Zumal dem erhofften "Kulturwandel" sportartübergreifend die tradierten Einstellungen, Überzeugungen und Erfahrungswerte vollkommen entgegenstehen. Fragt man im erweiterten Bekanntenkreis, ob sich deutsche Spitzenathleten ein bisschen mehr anstrengen sollten, um im internationalen Wettbewerb wieder erfolgreicher zu sein, so wird man etwa folgende Antworten erhalten: Der Leistungssport ist nun mal kein Ponyhof. Nur wer über seine eigenen Grenzen geht und bereit ist, sich zu schinden, wird auch erfolgreich sein. Mit Wohlfühltraining und Kuschelkurs bleibt man nur Mittelmaß.
Das ist nicht nur die Zuschauersicht, sondern meistenteils auch die Sicht der Spitzenkräfte, die das Wechselbad aus harter Arbeit, Entbehrungen und phasenweiser Wertschätzung "freiwillig" durchleben, um den gesellschaftlich versprochenen Lohn als positiv empfundene Entschädigung einstreichen zu können.
Der Druck auf die Akteure, immer spektakulärere Schwierigkeitsgrade turnen zu müssen, um international wettbewerbsfähig zu bleiben, steigt unterdessen von Jahr zu Jahr. Vielleicht erinnert sich noch jemand an die Aussage von Andreas Bretschneider, der das schwierigste Reck-Element der Welt erfunden hat, bei den Olympischen Spielen 2016 in Brasilien. Nach seinem Patzer und dem Kreuzbandriss seines Kollegen Andreas Toba, der bei den Sommerspielen als "Hero de Janeiro" gefeiert worden war, weil er sich trotz schwerster Verletzung weiterhin in den Dienst der Mannschaft gestellt hatte (kein Missbrauchsfall wie bei den Frauen!), konstatierte Bretschneider: "Blut, Schweiß und Tränen in mehr als 30 Wochenstunden, Verzicht auf Freizeit, Freunde und Familie, der ewige Kampf gegen den Schmerz und die Selbstzweifel - und das ganze vier Jahre lang für diesen einen Moment." Bretschneiders deutlichen Worten, dass das Turnen immer risikoreicher, brutaler und verletzungsanfälliger werde, stimmte damals im Prinzip auch sein Turnbruder Fabian Hambüchen zu, der nach Rio seine internationale Karriere beendet hatte: "Es ist sehr riskant geworden. Man macht immer verrücktere Sachen, um ganz vorn zu landen." [12]
Der Autor dieses Kommentars war in sehr jungen Jahren als Kunstturner aktiv und hat ähnliche Missstände wie Gewichtskontrollen, Demütigungen oder knüppelharte Trainingsbedingungen auf Landeskaderlehrgängen selbst erlebt. Allerdings teilt er die Einschätzung nicht, dass ein Aufbrechen des Machtgefälles zwischen TrainerIn und Schützling oder die Umerziehung ganzer Trainergenerationen sowie die radikale Veränderung ihrer Umgangsformen Grundsätzliches an den Verhältnissen im Turnsport ändern würde. Selbst wenn TrainerInnen ihre Schutzbefohlenen durchgängig mit Samthandschuhen anfassen würden, so gilt doch weiterhin das Leistungsprinzip mitsamt den inhärenten Steigerungs- und Konkurrenzprinzipien, die den Wettkämpfer dazu bringen, sich selbst überbieten bzw. den anderen niederkonkurrieren zu müssen, um in diesem Vergleichssystem mithalten zu können. Auf niedriger Leistungsstufe fällt es oft nicht so auf, was sich die Akteure dabei antun, zumal die körperlichen Verschleißfolgen durch die vielfach extremen Stöße, Torsionen, Streckungen, Dehnungen und Verkeilungen nach einer Phase des scheinbar Möglichen und Aushaltbaren erst später auftreten und über die sozialen Gratifikationsmechanismen gegenseitiger Bestätigung und gesellschaftlicher Anerkennung gut kompensierbar erscheinen. Aber je höher das Leistungsniveau und je länger die Akteure dabei sind, desto öfter kommen die Verletzungen, bis am Ende dann das Karriereaus steht, weil der täglich über Stunden malträtierte Körper schlichtweg austherapiert ist.
Natürlich bringt es Spaß, als junger Kunstturner eine Flick-Flack-Reihe hinzulegen oder bei den Bundesjugendspielen im Geräteturnen der Star zu sein und die Bewunderung der Schulkameraden und -kameradinnen zu ernten, für die (schwierige) Turnübungen normalerweise ein Gräuel sind. Doch der Preis ist hoch, und die Erwachsenenwelt hat sehr viele Methoden und Strategien entwickelt, damit das Kind erst spät darauf kommt - wenn überhaupt. Was wie der typische Taschenspielertrick der Sportpsychologie klingt, nämlich die gute und akzeptable "Leistung" vom bösen und inakzeptablen "Missbrauch" abzuspalten, damit die Sorge-Experten die strukturellen Umstände und zwanghaften Bedingungen des Spitzensports "kindgerechter" oder "humaner" gestalten können, ändert nichts am brutalen Leistungsdruck und der sportartspezifischen Deformation der Kindskörper.
Die Frage, ob modernes Turnen, das einst von Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852) in Deutschland populär gemacht wurde und vor allem dazu diente, die Wehrkraft der deutschen Jugend für die Befreiungskriege gegen Napoleon zu stärken, unter den heutigen Bedingungen des progressiv verschärften Hochleistungssports überhaupt noch betrieben werden sollte, zumal es sich bei der Talentezucht um Kinder handelt, die bereits mit drei, vier Jahren auf die Bahn gebracht werden, schwebt zwar wie ein Elefant im Raum, doch die Burgherren und Schildwächter der Turnergilde werden den Teufel tun, sie negativ zu beantworten. Zumal wenn die Spitzenkräfte erklärtermaßen den Turnsport lieben und als das beste und schönste ihres Lebens bezeichnen - also hinterher, wenn die Plackerei - man kann sie auch als lustvoll empfinden - vorbei ist und man sich von dem Druck und den Zwängen befreit glaubt.
Wer dem Spitzenturnen den Rücken kehrt, riskiert sein soziales und berufliches Reputationskapital zu verlieren. Gerade SpitzensportlerInnen, die im kindlichen Alter ihre Karriere beginnen, sind selten geneigt, ihre ungeheure Investition an jugendlicher Biografie, an Aufwand, Leiden und Verzicht, ohne Ertrag einfach wegzuschmeißen. Und bislang ist es der Sportindustrie noch immer gelungen, die Widerspruchsregulation zu perfektionieren und selbst entschiedene KritikerInnen oder missbräuchlich Betroffene über reformistische Ansätze und Besserungsversprechen zu integrieren. Um sich nicht vollständig eingestehen zu müssen, dass spitzensportliches Kunstturnen von klein auf systematische Menschenschinderei bedeutet - der DTB ist mit über zwei Millionen Kindern und Jugendlichen der größte Kinder- und Jugendverband Deutschlands -, versuchen nun diverse Fachschaften, mitunter sogar Betroffene, den Turnsport sowohl als nationale Kaderschmiede als auch positives Erziehungsmittel vor dem totalen Ansehensverlust zu retten. Hochleistung, zumal medaillenprämiert, wird nach wie vor gefordert, nur mit "weniger" Druck, Zwang und Strafe und am besten durch "intrinsische Motivation", also mehr Spaß und Freude beim Training, sowie durch Erziehung zur "Mündigkeit" und der "Übernahme von Verantwortung". Mit anderen Worten: Die äußeren Zwänge werden Zug um Zug in die Turnerinnen und Turner hineinverlagert, die sich nun auch noch damit abplagen müssen, die psychische Bringschuld bei sich selbst zu suchen, wo doch das soziale Umfeld vorgibt, beste Rahmenbedingungen geschaffen zu haben, damit der "mündige Athlet" Topleistungen bringt.
Wie sich das aus Expertenmund anhört, konnte der geneigte Sportkonsument im ZDF-Sportstudio sehen. Dort erklärte die Sportpsychologin Jeannine Ohlert von der Deutschen Sporthochschule in Köln: "Ich muss sie nicht kleinhalten, ich muss ihnen nicht ihre eigenen Gefühle absprechen, sondern ich kann sie mitnehmen, gerade dann, wenn sie älter werden, immer mehr Verantwortung übergeben. Und wir wissen eben auch aus anderen Ländern, dass das funktioniert, dass das eigentlich dazu führt, dass die Sportlerinnen und Sportler längerfristig im Sport bleiben, motivierter sind und dadurch eben tatsächlich auch bessere Leistung bringen." [13]
Die 36jährige Kim Bui hat ihre internationale Turnkarriere inzwischen beendet und wurde vergangenes Jahr in die Athletenkommission des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) gewählt, wo sie jetzt ihre Erfahrung einbringen und über Tabuthemen wie Bulimie sprechen möchte. Wer die scheinheiligen Lobeshymnen von IOC und DOSB zu Kim Buis Wahl liest, der ahnt natürlich, wohin die Reise gehen wird. Bei einem Moloch wie dem IOC wird man schneller als man denkt Teil des Systems, und sei es als Alibifigur und Aushängeschild für Sorge und Kritik.
28. Mai 2025
Fußnoten:
[1] https://www.n-tv.de/sport/Wenn-Missbrauch-die-pervertierte-Normalitaet-ist-article25463026.html. 02.01.2025.
[2] https://dserver.bundestag.de/btp/21/21003.pdf. 14.05.2025.
[3] https://www.deutschlandfunk.de/turnen-maengel-in-der-aufarbeitung-des-turnskandals-turnerin-janine-berger-100.html. 04.05.2025.
[4] https://www.janine-berger.com/offener-brief. 10.02.2025.
[5] https://www.swr.de/sport/mehr-sport/turnen/aimee-boorman-trainerin-stuttgart-100.html. 19.03.2025.
[6] https://www.stern.de/sport/kim-bui-ueber-missstaende-im-turnenverdeckt--verleugnet--verdraengt--35346446.html. 01.01.2025 (Paywall)
[7] https://www.ndr.de/sport/fussball/Felix-Magath-Spielmacher-Genie-und-Meistertrainer,magath313.html. 26.07.2023.
[8] https://www.dw.com/de/was-man-ueber-den-skandal-im-deutschen-turnsport-wissen-muss/a-71202632?maca=de-rss-de-sport-4020-rdf. 02.01.2025.
[9] https://www.globalathlete.org/our-word/500-canadian-gymnasts-concerns-about-a-toxic-abusive-sport-culture-continue-to-be-ignored. 26.10.2022.
[10] https://www.zdfheute.de/sport/lara-hinsberger-missstaende-stuetzpunkt-stuttgart-turnen-102.html. 01.01.2025.
[11] https://www.dtb.de/artikel/massnahmen-umgesetzt-und-kulturwandel-angestossen. 03.02.2022.
[12] https://www.sueddeutsche.de/sport/olympia-bretschneiders-entgleisung-turn-diskussion-eskaliert-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-160809-99-992842. 09.08.2016.
[13] https://www.zdf.de/sport/das-aktuelle-sportstudio/kim-bui-jeannine-ohlert-talk-turnen-missbrauch-100.html. 08.03.2025.
28. Mai 2025
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 183 vom 5. Juli 2025
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